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Führung in Zeiten des Umbruchs – Herausforderungen und Chancen

Rede, die der BayDV-Vorsitzende, Walter Baier, beim Festakt am 17. Oktober gehalten hätte.

Ich muss gestehen, als ich mir über das Motto dieser Hauptversammlung zum ersten Mal Gedanken machte, fielen mit deutlich mehr Beispiele für Herausforderungen ein als für den Aspekt Chancen. Dies hängt sicherlich auch damit zusammen, dass wir in diesen schwierigen Zeiten vor Herausforderungen gestellt waren und noch sind, die wir uns vor einem Jahr gar nicht vorstellen konnten und deren Bewältigung in den vergangenen Monaten nicht wenige an ihre Belastungsgrenze gebracht hat. Gleichzeit befinden wir uns an den bayerischen Gymnasien in einer Umstrukturierungsphase, die immer mehr an Fahrt gewinnt, ein hohes Maß an Ressourcen fordert, aber gleichzeitig auch viele neue Chancen eröffnet. Das Aufwachsen des neunjährigen Gymnasiums mit all seinen Neuerungen, die Möglichkeit der individuellen Lernzeitverkürzung, Binnendifferenzierung und individuelle Fördermöglichkeiten, all dies wird das bayerische Gymnasium verändern. Und nicht zuletzt wird die zügig voranschreitende Digitalisierung bis in die Unterrichtsgestaltung der Lehrerinnen und Lehrer hineinwirken. Gerade hier hat sich durch die Corona-bedingten Einschränkungen im Präsenzunterricht eine Dynamik in einem vorher nicht für möglich gehaltenen Tempo entfaltet. Diese Umstrukturierungen an den Gymnasien erfordern ein hohes Maß an persönlicher Belastbarkeit. Wie selbstverständlich wird oftmals davon ausgegangen, dass Schulleitungen und Kollegien es schon irgendwie schaffen werden. Um den Umgang mit diesen Belastungen wird sich selten gekümmert, dies kann aber leicht zu nachhaltigen Krisen führen.

Auf der anderen Seite gäbe es vielleicht weniger Fortschritt, wenn es keine Krisen gäbe. Der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat einmal gesagt: „Von den Chinesen könnten wir einiges lernen. Sie haben für Krise und Chance dasselbe Schriftzeichen.“ (Zitat Ende). Jede Krise ist also auch eine Chance für Veränderung. Sieht man eine Krise als Zeit des Wandels, so geht es einem schon wieder etwas besser und man sieht nicht immer nur in den Abgrund, der sich manchmal vor einem auftut.

Was heute von Schulleiterinnen und Schulleitern erwartet wird, kann man in so genannten Aufgabenprofilen für Schulleitungen nachlesen: „Schulleiterinnen und Schulleiter entwickeln klare Ziele für die Zukunft der eigenen Schule und treffen verantwortliche Entscheidungen für ihre Umsetzung. Ihre Führung zielt – unter Beachtung der Beteiligungsrechte – auf das Zusammenwirken aller in der Schule Tätigen, um das Bestmögliche für jeden zu erreichen.“

Eine Schule leiten heißt, eine Schule führen. Aber Führung in Krisenzeiten? – dafür gab es bisher so gut wie keine Fortbildungsangebote für Schulleiterinnen und Schulleiter. Dabei zeigte sich, dass in Corona-Zeiten bezüglich der Anforderungen an Führung ganz andere Prioritäten gesetzt werden müssen als im „normalen“ Schulalltag.

Lobt man in ruhiger See vor allem das Schiff mit seiner hervorragenden Technik, so gilt im Sturm alle Aufmerksamkeit dem Kapitän und Steuermann in Personalunion. Alles blickt auf ihn und hofft auf rettende Anweisungen und Signale. Führung ist nie unwichtig, doch in Krisenzeiten steigt das Bewusstsein für die Bedeutung der Führungskraft. Was von einer Führungskraft erwartet wird, gilt nicht nur für Schulleitungen, sondern natürlich genauso für die vorgesetzten Behörden: sich eine Überblick über das gesamte Problem verschaffen – eine klare Analyse der Krisenlage – die Kommunikation sicherstellen – Handlungsoptionen abwägen – zügig Entscheidungen herbeiführen – dabei die Folgen von Entscheidungen bedenken – klare Ansagen und Aufträge erteilen – zielgerichtete Schritte einleiten – permanente Evaluation und Nachsteuerung – und wichtig: nicht in Aufregung oder Panik verfallen. Schulleitungen, die in der Lage sind, ihre Mitarbeiter über intrinsische Motivation, klare Kommunikation und mit dem Hintergrund einer auf Wertschätzung basierenden Schulkultur zu steuern, verfügen über einen entscheidenden Vorteil im Hinblick auf die Bewältigung von Krisen. Diese Fähigkeiten machen Schulen insgesamt flexibel und anpassungsfähig.

Seit dem Beginn der COVID19-Pandemie haben die Schulleitungen mit ihren Kollegien vor Ort zahlreiche Herausforderungen gemeistert und neben der Bewältigung der Krise auch Chancen für eine umfassende Weiterentwicklung genutzt. Sie haben Hygienevorschriften den örtlichen Gegebenheiten angepasst, altersspezifische und situationsgemäße Aufsichtskonzepte entworfen und umgesetzt, Rahmenbedingungen von Präsenz-, Distanz- und Hybridunterricht an ihren Schulen festgelegt und deren Zusammenspiel koordiniert, für die neuen Unterrichtsformen didaktische und methodische Konzepte und technische Instrumente neu implementiert oder vorhandene Konzepte weiterentwickelt sowie eine intensive Kommunikation mit allen Gruppen der Schulfamilie gepflegt. Es ist nicht zuletzt den Schulleiterinnen und Schulleitern zu verdanken, dass unser Schulsystem im Frühjahr nicht vollständig kollabierte, dass an allen Schularten faire und qualitätvolle Abschlussprüfungen stattgefunden haben und dass wir durch die Rückkehr zum Präsenzunterricht auch unter verschärften Hygienebedingungen ein gewisses Maß an Normalität zurückgewonnen haben.

Nicht nur aufgrund der veränderten gesellschaftlichen Erwartungen sowie komplexeren Aufgabenspektren sind die Anforderungen an Schulleiterinnen und Schulleiter in den letzten Jahren enorm gewachsen. Eine aktuelle, repräsentative forsa-Schulleitungsbefragung benennt die drei größten Herausforderungen in der heutigen Zeit. Dies sind mit hohen Zustimmungswerten über 80 Prozent das stetig wachsende Aufgabenspektrum, die steigenden Verwaltungsarbeiten und dass die Politik bei ihren Entscheidungen manchmal den tatsächlichen Schulalltag nicht ausreichend beachtet. Beinahe ebenso viele Schulleiterinnen und Schulleiter sehen die Überlastung des Kollegiums als Belastungsfaktor an und fast genauso viele verwehren sich gegen die Anspruchshaltung, dass die Schule alle gesellschaftlichen Probleme lösen soll. Hinzu kommt der Mangel an Ressourcen und fehlendes Unterrichtspersonal. Gerade jetzt wäre es wichtig, arbeitsbezogene Ressourcen als gesunderhaltende Faktoren im Blick zu haben und zu stärken, damit Schulleiterinnen und Schulleiter auch künftig in der Lage sind, ihre schulischen Leitungsaufgaben für sich und für die Schule erfüllen zu können. Kommt zu diesen Belastungen dann noch eine Krisensituation wie im Frühjahr dieses Jahres dazu, kann es leicht zu einer scheinbar ausweglosen Situation kommen, die sich auch bei einzelnen in gesundheitlichen Problemen niederschlägt. In der Zeit vor den Sommerferien haben sich Schulleiterinnen und Schulleiter an mich gewandt, die es ihrer Meinung nach nicht geschafft haben, den eigenen Ansprüchen gerecht zu werden, die sich nicht mehr sicher waren, welche Prioritäten sie setzen sollten und wie sie das alles zeitlich schaffen könnten. Den Kolleginnen und Kollegen hat schon geholfen, dass man ihnen zugehört und ihre Sorgen und Probleme ernst genommen hat. Einige dieser Sorgen spiegeln sich auch in den Anträgen zur Hauptversammlung wider, die wir nach der Beratung in der Mitgliederversammlung an die zuständigen Stellen weiterleiten werden.

Um ein Problem in den Griff zu bekommen, muss man vielleicht auch einmal seine Einstellungen ändern. Schulleitungen interpretieren ihre Führungsrolle in der Regel auf der Grundlage von Idealismus, Verantwortungsgefühl und geprägt von pädagogischem Ethos. Darüber hinaus fühlt sich die Schulleitung verpflichtet, als „Vorbild“ zu agieren, was bedeutet: Mehr zu arbeiten als andere, sich korrekt zu verhalten und ihre pädagogischen Grundüberzeugungen zu leben. Dies kann auf Dauer belastend werden und auch Auswirkungen auf das Rollenverständnis haben.

Die Schulleiterrolle ist im Laufe der Jahre durch immer mehr Aufgaben immer komplexer geworden. Zu den tradierten Rollen als Lehrer, Repräsentant, Verwalter und Organisator kamen neuartige Rollen hinzu: Organisations- und Personalentwickler, Finanzmanager und Unternehmer. Des Weiteren muss bei einer Bewertung der Herausforderungen der Führungstätigkeiten in Rechnung gestellt werden, welchen besonderen Rahmenbedingungen sie ausgesetzt sind. Die gestiegenen Erwartungen von Eltern, Politik und Gesellschaft haben den Druck auf die Schulleitungen deutlich erhöht. Auch wenn Schulleiterinnen und Schulleiter scheinbar unerschöpfliche Reserven und eine hohe Stressresistenz haben, wäre es jetzt an der Zeit, die Chance zu nutzen, um bestimmte Aspekte in ihrem Aufgabenspektrum einer kritischen Überprüfung zu unterziehen.

In den letzten Jahren mussten die Schulen über 20 Konzepte erstellen, im Kollegium implementieren, umsetzen und evaluieren und in einem vorgegebenen Zeitraum Bericht erstatten. Auch wenn keines dieser Konzepte absolut überflüssig erschien, so zweifelte man doch immer wieder an der Wichtigkeit oder Durchführbarkeit der einen oder anderen Maßnahme. Dies gilt in gleicher Weise für administrative Tätigkeiten, die irgendwann einmal eingeführt wurden, viel Zeit in Anspruch nehmen und die im Hinblick auf Sinnhaftigkeit und Nachhaltigkeit doch einige Zweifel nähren.

Trägt es wirklich zur Chancengerechtigkeit und Qualitätsverbesserung bei, wenn man eine Lehrkraft in vier Jahren viermal beurteilen muss – eingeschlossen die jeweils verpflichtenden Unterrichtsbesuche und die dazugehörigen Unterrichtsbesprechungen? Ist es gerechtfertigt, den Schulleiterinnen und Schulleitern Aufgaben zu übertragen, für die sie weder ausgebildet noch prädestiniert sind und für die sie die volle Verantwortung tragen? Schulleitungen sind heutzutage genügend gefordert, das Alltagsgeschäft zu bewältigen, Veränderungsprozesse zu gestalten, Personal zu führen, neue Medien zu implementieren und Netzwerke mit externen Partnern aufzubauen und zu pflegen. In Krisenzeiten kommt dazu, dass im Vergleich zu Managementaufgaben Führungsaufgaben wieder mehr in den Vordergrund rücken. Im Kontext vielfältiger Erwartungen und Forderungen von Seiten der Eltern und der Gesellschaft ist es unsere Aufgabe, Sicherheit zu vermitteln und einen klaren Kurs vorzugeben. Mit der Einführung der erweiterten Schulleitung, für die sich die BayDV erfolgreich eingesetzt hat, wurden die Führungsspannen deutlich gesenkt, eine effektive Erhöhung der Leitungszeit war damit aber nicht unbedingt verbunden. Das Konzept der eigenverantwortlichen Schule gibt uns mehr Handlungsspielräume, aber auch mehr Verantwortung. Diese nehmen wir gerne an, wir brauchen aber dazu förderliche Rahmenbedingungen und Rechtssicherheit für zeitgemäßes Schulleitungshandeln sowie eine adäquate Personalausstattung. In den kommenden Jahren werden wir auch am Gymnasium enorme Probleme bei der Gewinnung von gut ausgebildeten und qualifizierten Lehrkräften bekommen, wenn es nicht gelingt, jetzt die richtigen Weichen zu stellen. Die Wartelisten leeren sich rapide und in bestimmten Fächern (wie z. B. im Fach Deutsch) sind schon jetzt keine geeigneten Aushilfskräfte mehr zu bekommen. Man muss die Chance nutzen, in den nächsten Jahren mehr Lehrerinnen und Lehrer einzustellen, um den vorhersehbaren Mehrbedarf für das neunjährige Gymnasium decken zu können.

Corona war und bleibt eine Herausforderung – für Schulleitungen und Lehrkräfte ebenso wie für Schülerinnen und Schüler und deren Eltern. Aber die Pandemie ist auch eine Chance, ein Weckruf: Sie zeigt Stärken und Schwächen auf – und beschleunigt Entwicklungen. Die Digitalisierung der Schulen ist hier vielleicht das beste Beispiel. Die nötigen technischen Voraussetzungen für einen gelingenden Distanzunterricht müssen jetzt ganz schnell geschaffen oder verbessert werden: Alle Schulen sollen schnelles Internet bekommen, alle Lehrkräfte Dienstcomputer, alle Schülerinnen und Schüler einen preiswerten Internetzugang zu Hause – und außerdem Leihgeräte, wenn sie kein geeignetes Endgerät besitzen. Das ist sicher richtig. Doch es genügt nicht, in WLAN, Tablets und Co. zu investieren. Die Unterstützung durch externe Dienstleister, die sowohl Pflege und Wartung des Systems als auch den technischen Support übernehmen, ist in Zukunft unabdingbar. Ein großer Gewinn wären versierte Ansprechpartner, die sicherstellen, dass alle für die Schule angeschafften Komponenten kompatibel und effektiv nutzbar sind.

Trotz des von allen herbeigesehnten digitalen Innovationsschubs sollte aber nicht vergessen werden, dass Technik kein Selbstzweck ist, um Wissen zu vermitteln und in Kontakt zu bleiben. Wie wichtig Schule als Sozialraum ist, wurde vielen erst in den vergangenen Monaten bewusst. Und nicht nur Schülerinnen und Schüler haben die Schule schmerzlich vermisst.

Ob alles wieder einmal so sein wird, wie es war, lässt sich im Moment schwer prognostizieren. Mich als Musiker belastet die derzeitige Situation vor allem emotional. Meine Bigband kann nicht normal proben, Chöre und Orchester gibt es nur in Kleinstgruppen, Theateraufführungen und Sportfeste stehen zwar im Terminkalender, ob sie stattfinden werden, kann im Moment aber noch niemand vorhersehen. Die Schüleraustauschprogramme liegen auf Eis, die europäischen Partnerschulen haben derzeit zum Teil noch größere Probleme als wir.

Ich bin mir sicher, dass es auch wieder bessere Zeiten geben wird. Diesen Optimismus müssen wir als Schulleiterinnen und Schulleiter gerade im Hinblick auf unsere Schülerinnen und Schüler und deren Zukunftsperspektiven vermitteln. Denn für diese fühlen wir uns in erster Linie verantwortlich, deren Wohlergehen liegt uns besonders am Herzen. Deshalb gehe ich davon aus, dass wir auch in Zukunft die Unterstützung bekommen werden, die wir brauchen. In diesem Zusammenhang danke ich im Namen der BayDV, aber auch persönlich, der Gymnasialabteilung im Staatsministerium unter der Leitung von Herrn Ministerialdirigent Adolf Präbst für die intensive Kooperation und die Wertschätzung, die den Schulleiterinnen und Schulleitern der bayerischen Gymnasien von ihrer Seite entgegengebracht wird. Ich danke auch den anderen großen gymnasialen Verbänden, insbesondere Frau Arndt von der Landeselternvereinigung und Herrn Schwägerl vom Bayerischen Philologenverband sowie den Vertretern des Landesschülerrats (Frau König und Herrn Grasmüller) für ihr Vertrauen und die kollegiale Zusammenarbeit in diversen Arbeitsgruppen. Ich bin überzeugt, dass wir gemeinsam in den vergangenen Jahren viel für das bayerische Gymnasium erreicht haben und dass diese bundesweit einzigartige Erfolgsstory weitergehen könnte. Nicht zuletzt möchte ich Ihnen, Herrn Staatsminister, danken, dass Sie die Idee des Runden Tisches weitergeführt haben, dass Sie die Expertise und die Erfahrungen der Direktorinnen und Direktoren der bayerischen Gymnasien schätzen und uns im Vorfeld in Beratungen und Entscheidungsprozesse einbinden, gerade wenn es um unsere Schulart geht.

„Aus Krisen erwachsen auch immer neue Kräfte.“ Das hat Rita Süssmuth als Präsidentin des deutschen Bundestags einmal gesagt. Auch wenn es im Moment nicht immer einfach scheint und die Zeit der Schulschließungen und des Distanzunterrichts nicht spurlos an den Schulen und an uns Schulleiterinnen und Schulleitern vorübergegangen ist, sollten wir optimistisch in die Zukunft blicken und die Chancen nutzen, die sich jetzt bieten. Die Direktorenvereinigung der bayerischen Gymnasien steht als Ansprechpartner und Ratgeber, aber auch als Mahner und Kritiker, immer zur Verfügung. Jetzt Schule auf Biegen und Brechen verändern zu wollen, ist sicher nicht die richtige Strategie, aber angestoßene Veränderungsprozesse weiterzuentwickeln, zu kanalisieren und zu optimieren, könnte in Zukunft noch mehr zum zentralen Aspekt von erfolgreichem Schulleitungshandeln werden. In diesem Sinne möchte ich mit einem Zitat des früheren amerikanischen Präsidenten Theodore Roosevelt schließen:

„Wer seiner Führungsrolle gerecht werden will, muss genug Vernunft besitzen, um die Aufgaben den richtigen Leuten zu übertragen – und genug Selbstdisziplin, um ihnen nicht ins Handwerk zu pfuschen.“

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit

Die Rede zum Festakt als PDF